«Ging dann nach München, studierte dort wie in Dresden zum Schein Architektur, da meine Eltern gegen die Malerei waren.» So beschreibt Kirchner 1916 in einem Brief an Botho Graef seine berufliche Ausbildung. Ein kurzer Satz in einer sonst umfangreichen Beschreibung seines Werdegangs und jener Einflüsse, die ihn zum avantgardistischen Maler machten. Für Kirchner, so scheint es, war das Architekturstudium wenig mehr als ein notwendiger Zwang, der jedoch keine grossen Spuren in seiner Werkentwicklung hinterliess. Viele seiner Architekturzeichnungen aus den Jahren des Studiums und seine Diplomarbeit sind bis heute erhalten.
Die Ausstellung möchte diese unbekannte Seite des Malers in den Fokus rücken und anhand der Entwürfe und Skizzen, Kirchners architektonischen Blick herausstellen. Dazu zeigen wir ausgewählte Gemälde, in denen sichtbar wird, wie sehr ihn zeitlebens das Architektenwissen in seinen Kompositionen begleitete.
Die Ausstellung «Zum Schein Architektur»: Der unbekannte Kirchner rückt die unbekannte Seite des Malers und studierten Architekten Ernst Ludwig Kirchner in den Fokus und stellt anhand der Entwürfe und Skizzen aus seiner Studienzeit Kirchners architektonischen Blick heraus. Dazu zeigen wir mit ausgewählten Gemälden und hochkarätigen Leihgaben wie sehr sein Architektenwissen auch Einfluss auf die Stilentwicklung nahm und massgeblich seine perspektivischen Bildkompositionen formte.
Als sich Fritz Bleyl, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff am 7. Juni 1905 zur Künstlergruppe Brücke zusammenschlossen, verband sie neben dem Interesse an der Kunst vor allem das gemeinsame Architekturstudium. Kirchner hatte erst einen Monat zuvor, am 30. April, seine Diplomarbeit abgeschlossen und erhielt dafür am 1. Juli ein Zeugnis mit der Note „gut“ und damit die Berechtigung, als Architekt zu arbeiten. Dass die Gründung der Brücke zwischen diesen beiden Daten liegt, ist kein Zufall. Kirchners Studium ist als Beruhigungsgeste an die gutbürgerlichen Eltern zu verstehen, die sich für ihren künstlerisch begabten Sohn einen rechtschaffenden Beruf wünschten. Seine Eltern hatten früh das künstlerische Talent ihres Sohnes erkannt und förderten ihn bereits in jungen Jahren mit Privatunterricht im Zeichnen und Aquarellieren. Einem Zeichenlehrer seiner Kindheit, so schreibt es Kirchner in einem Brief an Will Grohmann am 8. Juli 1925, verdanke er „viel Anregung und exaktes technisches Wissen und Können“. Die Ausbildung als Architekt sollte Kirchners künstlerisches Talent in eine bürgerliche Anstellung kanalisieren.
Kennengelernt hatten sich die Gründungsmitglieder der Brücke an der Königlich Sächsischen Technischen Hochschule in Dresden, aber abgesehen von Kirchner schliesst lediglich Fritz Bleyl das Studium mit Diplom ab. Obwohl die Brücke-Künstler zeit ihres Lebens dem Studium der Architektur wenig Bedeutung für ihren Werdegang beimassen, lässt sich aus dem historischen Rückblick dennoch ablesen, wie entscheidend die Begegnungen mit Architekturgrössen waren, wie dem reformbegeisterten Mitbegründer des Werkbundes, Fritz Schumann. Nicht zuletzt erwuchs der Fokus der Gruppe auf die handwerklichen Fähigkeiten und die Aufwertung sogenannter niederer Künste wie der Textilweberei oder dem Holzschnitzen aus dem zeithistorischen Kontext einer avantgardistischen Architekturbewegung. Auch waren der architektonische Zeichenunterricht sowie Übungen zu Geometrie und Ornamentik Teil des Curriculums neben Baukonstruktionslehre und Mathematik. Das widerspricht dem Bild des freien Künstlers, der sich das Malen autodidaktisch beigebracht hat, wie es die Brücke gerne kolportierte, und zeigt auf, wie wichtig das Studium auch für die perspektivischen Bildkompositionen war, die vor allem Kirchner meisterhaft beherrschte.
Hier setzt die Ausstellung «Zum Schein Architektur» an: Während vorangegangene Ausstellungen sich mit der Architekturgeschichte und dem architektonischen Œuvre Kirchners aus seinen Studienzeiten beschäftigen, möchte diese Schau Kirchners künstlerisches Werk auf die Einflüsse architektonischer Stilistik untersuchen. Seine urbane Werke aus der Berliner Zeit sind heute Ikonen des vorkrieglichen Grossstadtlebens und setzten den Grundstein für die fortwährende Auseinandersetzung mit Architektur in seinem Werk.
Neben Kirchners kompositorischer Bildgestaltung, die in gekonnt multi-perspektivischen Ansichten mündete, wie in dem Schlüsselwerk «Sertigtal im Herbst» von 1925/26, soll auch seine Affinität zu Bauten und Baugeschichte analysiert werden. Insbesondere in der Davoser Zeit offenbart sich der besondere Blick des Malers auf die Architektur der Moderne, die in Davos durch die von Rudolf Gabarel propagierte Flachdacharchitektur vertreten war. Diese hält Kirchner immer wieder in Fotografie, Zeichnung und Malerei fest und setzt sie in direkten Dialog mit der traditionellen Architektur der Walser-Häuser.
Auch seine beiden Davoser Wohnstätten, das Haus in den Lärchen und das Haus auf dem Wildboden, werden thematisiert. Sie finden sich nicht nur in zahlreichen Arbeiten wieder, sondern wurden vom Künstler im Sinne des Gesamtkunstwerkes ausgestattet. Im Rückgriff auf die Brücke-Zeit sind Kirchners Ateliers im Spätwerk mehr als nur Arbeitsorte: Hier verbindet sich Leben und Werk, sie sind sowohl Orte des Austausches wie auch Kulisse für seine Malerei.
Ein weiteres Thema wird Kirchners Deutschlandreise 1925/26 gewidmet, die ihn nach langer Zeit wieder in seine Heimatstadt Chemnitz und nach Berlin bringt. Hier begegnet Kirchner zum einen grossen Fabrikbauten, deren Schlote und Rauchwolken er gleich den Alpenpanoramen zu urbanen Landschaften macht. Zum anderen beeinflussen ihn die, dank elektrischer Beleuchtung auch nachts taghellen, Strassenzüge und führen zusammen mit der bunten Leuchtreklame zu einer neue Bildsprache – bis hin zu grelleren Farben und flächigeren Formen aus denen er schlussendlich, zurück in Davos, den Neuen Stil erschafft.
Viele Architekturzeichnungen aus den Jahren des Studiums und Kirchners Diplomarbeit sind bis heute erhalten. Dass sie so lange überlebt haben und auch den Umzug in die Schweiz überdauerten, lässt erahnen, welche Bedeutung sie für den Künstler hatten. Aus dem Kirchner-Nachlass zeigen wir insgesamt 95 Studienarbeiten und Entwürfe, zuzüglich der Diplomarbeit einer Friedhofsanlage aus der Sammlung des KMD. Die von Hand gezeichneten Papierarbeiten verfügen über einen hohen Detailgrad und erlauben Einblick in Kirchners Denk- und Fantasiewelt als Architekt. In der Sammlung des Kirchner Museums befinden sich zudem Entwürfe für eine Ausstellungshalle in Karlsruhe aus dem Jahr 1914, die für die «Zum Schein Architektur»- Ausstellung restauriert und aufbereitet werden. Sie sind das einzige Zeugnis, das Kirchner nach Beendigung seines Studiums als Architekt tätig sein wollte.
Ergänzt werden diese Arbeiten durch Leihgaben aus dem In- und Ausland, die im Œuvre des Malers eine Solitärstellung einnehmen, wie die «Alpküche» von 1918 aus den Beständen des Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid oder die «Chemnitzer Fabriken» von 1926 aus den Kunstsammlungen Chemnitz. Zusammen mit wichtigen Gemälden aus der Sammlung des Kirchner Museums, wie dem einzigartigen «Bergatelier» von 1935, wird zum ersten Mal Kirchners architektonischer Malerei zusammengetragen und im Kontext dieser Lesart ausgestellt.
Katalog
Zur Ausstellung erscheint ein wissenschaftlicher Katalog mit Beiträgen renommierter Autor*innen. Der Katalog wird sowohl auf Deutsch wie auch auf Englisch publiziert.