Maria und Ernst Kirchner leben 1880 in Aschaffenburg, als ihr Sohn Ernst Ludwig am 6. Mai geboren wird. Er ist ein aufmerksamer Junge, der viel Zeit am Fenster seines Zimmers mit Blick auf den gegenüberliegenden Bahnhof verbringt. Schon als Kind beobachtet er seine unmittelbare Umgebung: Die Gebäude um ihn herum, das rege Bahnhofstreiben und die geschäftigen Menschen auf der Strasse faszinieren ihn. All diese Eindrücke zeichnet er mit Farb- und Bleistiften auf Papier.
E. L. Kirchner Biografie


Aus dem Studium in die künstlerische Freiheit

Kirchners intensiver Wunsch, Maler zu werden, stösst bei den Eltern auf verhaltenen Zuspruch. Besonders der Vater wünscht sich einen gesellschaftlich akzeptierten Beruf für seinen Sohn. So geht Kirchner einen nicht ganz uneigennützigen Kompromiss ein: Nach seinem Abitur beginnt er an der Dresdner Hochschule ein Architekturstudium, schreibt sich dort aber vor allem für künstlerische Seminare ein. Er besucht Kurse im Freihand- und Aktzeichnen sowie in Kompositionslehre und fertigt erste eigene Arbeiten. Das Studium ist in vielerlei Hinsicht wegweisend. Es ermöglicht ihm nicht nur die künstlerische Grundausbildung, sondern auch die finanzielle Unterstützung durch die Familie und schafft dadurch die Freiheit für eine intensive Auseinandersetzung mit Kunst. Kirchner geniesst das Studentenleben: Er trifft sich mit Freund:innen, geht auf Reisen an die Moritzburger Seen und erarbeitet mit anderen jungen Studenten neue künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten. Mit der Gründung der Künstlergruppe Brücke 1905 ebnet er sich schliesslich gemeinsam mit seinen Kommilitonen Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff den Weg in die Kunstwelt. Er vernetzt sich mit anderen Künstler:innen und verbringt neben Museums- und Ausstellungsbesuchen die Nächte mit seinen Künstlerfreund:innen in Bars und Cafés. Eines Abends trifft er dort auf seine erste Freundin Doris Große, «Dodo» genannt. Sie ist Modistin bei Tag und Modell bei Nacht und tritt in zahlreichen Werken Kirchners aus dieser Zeit auf.
Das Leben eines Bohemiens

Kirchner konstruiert sich ein Künstlerleben ganz nach seinen eigenen Vorstellungen. Antibürgerlich und frei von gesellschaftlichen Erwartungen lebt er ganz im Sinne der neuen Lebensreformbewegung. Er zelebriert auf seinen Reisen ein imaginiertes ursprüngliches Leben und sucht nach einer Einheit zwischen Mensch und Natur. Diese Suche findet manchmal mit dem Kanu statt, manchmal mit Pfeil und Bogen oder einem Bumerang – und das alles fast immer vollkommen nackt.
«Jedes Möbel, jeder Teppich war von ihm eigenhändig hergestellt. Wenn man in seinen Raum trat, fühlte man sich auf einem anderen Stern oder in einem weltfernen Jahrhundert.»
Für sein Leben als Bohemien benötigt Kirchner die passenden Räumlichkeiten. Seine Studios in Dresden und Berlin sind zugleich Arbeitsplätze, gesamtkünstlerische Wohnateliers und behagliche Rückzugsorte. Inmitten von Gemälden, Zeichnungen und Skizzen, selbst entworfenen Textilien und Möbelstücken oder Skulpturen trifft sich Kirchner mit seinen Freund:innen. Zwischendurch versucht er sich zusammen mit Max Pechstein als Lehrer und gründet das MUIM-Institut. Allerdings ist die Nachfrage mit nur zwei Schülern eher gering. Als Maler wiederum ist Kirchner zunächst mit der Brücke und nach ihrer Auflösung 1913 als Einzelkünstler erfolgreich und lernt wichtige Freund:innen und Förder:innen kennen.
Auf der Suche nach dem Paradies

Kirchner ist fasziniert von der Welt des Tanzes, insbesondere das Variété begeistert ihn. Eines Nachts lernt er die Schwestern Gerda und Erna Schilling kennen – Erna wird ihn als seine Partnerin bis zu seinem Lebensende begleiten. Doch er ist jung und innerlich unruhig, gedrängt von einer stetigen Suche; von einem Verlangen nach Natürlichkeit und Unverfälschtheit, nach einem Sehnsuchtsort. Diesen findet er auf Fehmarn. Die raue Ostsee mit ihrer Brandung und die Insel mit ihren Steilküsten faszinieren ihn. Wie schon in seiner Kindheit dokumentiert er das Leben, das um ihn herum stattfindet. Im Meer badende Menschen, spielende Kinder am Strand, die charakteristische Natur Fehmarns, die bei Kirchner fast zum Urwald wird. Insgesamt viermal reist er auf die Insel, immer in Begleitung. Mal mit den Geschwistern Hans und Emy Frisch – von Letzterer erlernt er die Technik der Fotografie –, manchmal mit Heckel und dessen Freundin, der Tänzerin Sidi Riha. Zumeist aber mit Erna; mit ihr verbringt er einen charmanten Sommer bei Familie Lüthmann im Giebelzimmer des Leuchtturms Staberhuk.
Ein unsichtbarer Seelenschmerz

Doch auch dieses Paradies kann den Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 nicht fernhalten und die dunklen Wolken, die sich auf Kirchners Gemüt legen, nicht vertreiben. Zunehmend leidet er an nervösen Angstzuständen und gibt sich übermässigem Alkoholkonsum hin. Auf der Suche nach einer Lösung überlegt er fieberhaft, wie er den Krieg überstehen könnte. Durch seine freiwillige Meldung zum Wehrdienst erhofft er sich, zumindest die Waffengattung selbst wählen zu können, doch er wird zur Feldartillerie nach Halle an der Saale berufen. Inszeniert er sich anfänglich noch als Soldat in seinem Atelier, leidet er doch zunehmend unter dem militärischen Druck und bricht schliesslich zusammen. Die Beurlaubung vom Wehrdienst ist für Kirchner jedoch nicht das Ende des Leidens, sondern der Anfang einer jahrelangen Reise durch verschiedene Sanatorien, unterschiedlichster Diagnosen und einer intensiven Auseinandersetzung mit seiner Gesundheit.
«Die Höhenluft tut meinen Händen gut. Es ist fast wie eine Befreiung.»

Doch wie kommt Kirchner nach Davos? Auf Empfehlung eines Freundes reist er im Januar 1917 in das Bergdorf. Doch schon Anfang Februar kehrt er hastig zurück nach Berlin. Es ist ihm einfach zu kalt in Graubünden. Doch dieser kurze Aufenthalt in den Schweizer Bergen scheint etwas in ihm ausgelöst zu haben – eine Inspiration, die ihn im Mai zu einer erneuten Reise aufbrechen lässt. Sein Gesundheitszustand ist beängstigend: Neben einer Medikamentenabhängigkeit leidet er auch noch an Lähmungen seiner Gliedmassen und Bewusstseinsstörungen. Zusammen mit der Pflegerin Hedwig verbringt er den Schweizer Sommer auf der Stafelalp in der Rüesch-Hütte und tut das, was er immer an eindrucksvollen Orten macht: Er fängt seine Umgebung in Zeichnungen ein, die seine Faszination für die Bergwelt und das einfache Leben der Bäuer:innen zeigen. Schnell erkennt Kirchner, dass Davos seine Zukunft bereithält. Diese beginnt im Haus «In den Lärchen».
«Heute war die Sehnsucht nach dem Teppich so gross, dass E. ihn mir holte, nun liege ich darin. Wie schön er ist.»

Damit er sich auch in der neuen Umgebung wie zu Hause fühlen kann, lässt er Anfang 1919 erstes Umzugsgut von Berlin nach Davos transportieren. Darunter sind seine geliebte Druckerpresse und selbst gefertigte Teppiche, die er dringend für sein Wohlbefinden benötigt. Die Hütte auf der Stafelalp bleibt sein beliebtes Sommerdomizil. Inmitten blühender Wiesen, der Kühe auf den Weiden und dem Leben der Hirt:innen verbringt Kirchner dort die sonnengewärmten Monate.
«Man lernt überhaupt erst hier den Wert der einzelnen Farben kennen.»

Sein letzter Wohnort wird das Haus auf dem Wildboden, das er im Oktober 1923 bezieht und wo er sich im Freien sein Bildhaueratelier einrichtet. Die Davoser Jahre sind gekennzeichnet von seinem intensiven Schaffensdrang und dem künstlerischen Ausdruckswillen, der sich nicht nur in Gemälden und Druckgrafiken niederschlägt, sondern ebenfalls in Fotografien, Zeichnungen, Textilien und plastischen Arbeiten. In den Bergen erlangt Kirchner eine bedingungslose Freiheit, die seinen Gesundheitszustand merklich verbessert und sich in seinen Werken in neuen Stilformen zeigt.
Das moderne Grossstadtleben im Kleinen

Nun könnte man durchaus vermuten, dass Kirchner sich als eigenwilliger Künstler in seinen Berghütten zurückzieht, nur umgeben von Erna, seinen Atelierdekorationen und der Natur. Doch im Gegenteil zeigt er sich als überraschend gesellige Persönlichkeit. Fast schon offensiv sucht er Kontakt zu anderen Künstler:innen, Galerist:innen, Museen und Sammler:innen. Er bekommt Besuch von Familienmitgliedern und jungen Künstler:innen wie Hermann Scherer, Albert Müller und Paul Camenisch, die bei ihm arbeiten und von ihm lernen. Zudem ist Kirchner auf dem Wildboden als Einziger in Besitz eines Grammophons und veranstaltet in seinem Haus fröhliche Tanzabende für seine Nachbar:innen, die an seine Vorliebe für das Variété erinnern. Dafür spricht auch sein enger Kontakt mit der Zürcher Tänzerin Nina Hard (Engelhardt), die den Sommer bei ihm verbringt und für zahlreiche Bilder Modell steht. Und noch eine weitere Frauenfigur wird für ihn und seine künstlerische Ausdrucksform wegweisend: 1921 lernt er die Weberin Lise Gujer kennen, die in den folgenden Jahren eindrucksvolle Wirkereien nach seinen Entwürfen herstellen wird. Das Leben in den Schweizer Bergen scheint Kirchner gutzutun.
«Wie soll das alles enden? Man fühlt, dass die Entscheidung in der Luft liegt und alles geht drunter und drüber.»

Doch auch diese scheinbare Idylle wird von einem Schatten getrübt. Kirchner hat Angst: Die deutsche Kulturpolitik und die Machtergreifung der Nationalsozialisten bereiten ihm Sorge. Diese schlägt sich vor allem auf seine Gesundheit nieder – die Angstattacken kehren zurück und er greift wieder zu morphinhaltigen Medikamenten. Dies ist eine Zeit des Rückzugs – Kirchner konzentriert sich nun vor allem auf die Schweiz, bemüht sich um die Kräftigung beruflicher Kontakte; und dennoch kann er die Weltpolitik nicht ausblenden. Während 1937 seine erste Ausstellung in den USA gezeigt wird, entfernen die Nationalsozialisten in Deutschland rund 770 seiner Werke aus den Museen. Kirchner ist zerrissen vor Angst. Er befürchtet den Einmarsch deutscher Truppen in Graubünden und zerstört impulsiv viele seiner Druckstöcke und Skulpturen. Es scheint, als hätte er noch einen kleinen Lichtblick verspürt, als er am 10. Mai 1938 bei der Davoser Gemeinde den Antrag für die Hochzeit mit Erna einreicht, doch diesen zieht er kurz darauf wieder zurück. Am 15. Juni erschiesst er sich in der Nähe seines Hauses auf dem Wildboden. Noch heute kann sein Grab auf dem Davoser Waldfriedhof besucht werden.